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Renato Mattli – Körperliche Inaktivität kommt uns teuer zu stehen

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Renato Mattli ist Fachstellenleiter im Bereich Health Technology Assessment und Gesundheitsökonomische Evaluationen am Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie (ZHAW). Als studierter Bewegungs- und Sportwissenschaftler hat er selbst eine hohe Affinität für Sport und Bewegung. Thema dieser Folge sind zwei kürzlich publizierte Studien, welche sich zum einen auf die durch Inaktivität verursachten Kosten und zum anderen auf mögliche Interventionen beziehen. Was kostet es, wenn Menschen zu mehr Bewegung motiviert werden sollen? Dabei sprechen Alfred Angerer und Renato Mattli aber nicht nur über die zentralen Ergebnisse, sondern zeigen auch auf, wie es überhaupt zur Entstehung einer solchen Gesundheitsökonomischen Studie am WIG-ZHAW kommt.

Fragen und Antworten

Studium in Bewegungs- und Sportwissenschaften, gearbeitet in der Medizinaltechnik- Industrie sowie direkte Arbeit am Patienten.

Gesundheitsökonomische Analysen können auf verschiedenen Ebenen angewendet werden. Konkret bedeutet dies für das Thema heute: “Was kosten Interventionen und was bringt das?“. Die Kosten sowie der Nutzen sind ausschlaggebend.

Es gibt teils sehr unterschiedliche Auftraggeber je nach Interventionen. Meistens sind es Pharmaunternehmen oder das BAG.

Wir untersuchten für das BAG das Thema “Körperliche Inaktivität“, indem wir die Kosten hierfür ermittelten. Für den zweiten Teil wurden wir von der Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt.

Es wurde international schon erforscht. Die Schweiz ist meist nicht in grossen internationalen Studien vertreten. Es gab eine frühere Studie, die schon über zehn Jahre alt war. Deshalb wurden wir von der BAG beauftragt eine aktuelle Studie zu erheben und durchzuführen.

Die Institutionen, die solche Studien in der Schweiz vollziehen sind rar. Deshalb sind es auserwählte Gruppen von Fachleuten, die angeschrieben werden und eine Offerte einreichen können oder die Auftragnehmer werden durch eine öffentliche Ausschreibung ermittelt.

In Gesprächen sind die Intentionen zu evaluieren. Das WIG ist eine unabhängige Einrichtung. Die Studien werden neutral und unabhängig durchgeführt. Eine wissenschaftlich unabhängige Studienerhebung ist uns wichtig, egal wer der Auftraggeber ist.

80% der Gesundheitskosten in der Schweiz sind über nicht übertragbare Krankheiten zurückzuführen. Die Risikofaktoren sind körperlichen Inaktivität, Rauchen, Alkohol und Ernährung. Durch körperliche Aktivität können Gesundheitskosten enorm eingespart werden.

Erst wird ausführliche Literaturrecherche betrieben und später die Methodik zur Datenerhebung festlegt. Wir befassen uns mit der Frage: “Welche Studien national und international wurden schon durchgeführt und welche Methoden können auf die Schweiz angewendet werden?“

Anhand dessen entscheiden wir über die Methodik, die auf die Schweiz übertragbar ist und die zweite zentrale Frage ist die Datenverfügbarkeit. Die Datenverfügbarkeit ist die grosse Herausforderung bei Krankheitskostenstudien und gesundheitsökonomischen Evaluationen.

Die international anerkannte Definition der WHO besagt, dass eine moderate Mindestaktivität von 150 min oder 75 Minuten intensives Training pro Woche einen positiven Effekt auf die Gesundheit aufweist, wobei moderat ein zügiges Gehen und intensives Training das Schwitzen bedeutet. Diese Empfehlungen sind an der unteren Grenze, wenn mit der

WHO-Guideline aus der USA verglichen wird. Die amerikanischen Empfehlungen verdoppeln die genannten Zahlen und empfehlen zusätzlich Kräftigungsübungen je nach Spezifikation.
Allgemein gilt “Alles ist besser als Nichts“. Jede Einheit ab 10 Minuten bringt schon einen Mehrwert für die Gesundheit.

Dabei wird aktuell moderat und intensives Training je nach Maß noch gleichwertig betrachtet.

Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung erfüllt diese Guidelines nicht. Es gibt jedoch regionale Unterschiede. Die italienisch- und französischsprechende Schweiz zeigt ein Drittel Inaktivität an. In der Deutschschweiz ist die Inaktivität etwa unter einem Viertel (bis Ein Fünftel), wobei immer die Ausbildung sowie das Alter und andere Faktoren entscheidend sind.

Bei einer unserer aktuelleren Studie zu den Todesfällen im Zusammenhang mit körperlicher Inaktivität zeigt sich, dass 40% der 75-Jährigen inaktiv sind. Beim demografischen Wandel ist das noch ein hohes Potenzial in der Schweiz, das ausbaubar ist.

Die erste unserer Thesen diesbezüglich waren die sozioökonomischen Unterschiede. Dies wurde jedoch von einer Studie aus Basel widerlegt, weshalb wir nun von kulturellen Unterschieden ausgehen. In der italienischen Schweiz werden die Kinder meist von den Eltern zur Schule gefahren wie im Vergleich zur Deutschschweiz. Kleine kulturelle Unterschiede könnten den Unterschied ausmachen. Diese Thesen wären jedoch interessant zum Untersuchen in weiteren Studien.

Die kleinen kulturellen Einstellungsunterschiede sind die entscheidenden Faktoren, die sich in der Aktivität bemerkbar machen.

Die körperliche Inaktivität in der französischen und italienischen Schweiz beträgt ein Drittel. In der Deutschschweiz beträgt die körperliche Inaktivität ein Fünftel. Das ist ein signifikanter Unterschied.

Die Prävalenzzahlen der Schweiz entnehmen wir aus der Schweizer Gesundheitsbefragung, die alle fünf Jahre durchgeführt wird und das ein repräsentatives Sample erfüllt. Das Self-Reporting wäre hierbei zur Datenerhebung suboptimal, da nicht wahrheitsgetreu und ungenau berichtet werden kann. Studien beweisen, dass beim Self-Reporting die Angaben zur körperlichen Aktivität 4,2-Mal höher angegeben werden, wie tatsächlich gemessen wird.

Daher gilt die regelmässige Gesundheitsbefragung als valide für uns. Jedoch wissen wir nun, dass die Datensätze mit dem Faktor 4,2 korrigierbar sind. Optimaler wären objektive Messungen.

Genau, die Prävalenz der körperlichen Inaktivität ist nur ein Faktor. Uns interessiert jedoch in diesem Zusammenhang welche Krankheiten entstehen. Wir vergleichen die körperliche Inaktivität und der körperlichen Aktivität in Zusammenhang des Auftretens mit Depression. Somit errechnen wir dann das relative Risiko an Depression zu erkranken bei einer körperlichen Inaktivität und Aktivität. Darauf basierend entstehen die Empfehlungen an die Bevölkerung.

Es gibt unterschiedliche Krankheiten, die berücksichtigt werden. Zentral sind die kardiovaskulären Erkrankungen, Diabetes auch Rückenschmerzen und Krebsarten (Kolon- und Brustkrebs), sowie Depressionen. Es gibt aber ebenfalls unterschiedliche Faktoren, die auf diese Erkrankungen einwirken.  

Die Studie der nicht übertragbaren Krankheiten der Schweiz hat die gesamten Gesundheitsausgaben der Schweiz übergeordneten Kategorien von Krankheiten zugeordnet. Die jeweiligen Krankheitsausgaben werden somit aus Daten anderer Studien entnommen. Das Wissen der Wissenschaft beruht auf vielen einzelnen Bausteinen.

Wir berücksichtigen die direkten medizinischen und indirekten Kostenarten (Produktivitätsverluste). Die indirekten Kosten die Folgen einer Krankheit, die aufgrund der Krankheit weniger produktiv sein können. Ein Beispiel wäre der Absentismus, da mehr Krankheitstage folgen oder der Präsentismus, bei dem die Menschen zwar in der Arbeit nicht fehlen, jedoch weniger produktiv sein können und der frühzeitige Tod vor dem Pensionierungsalter durch die Krankheit.

Wenn alle Kosten zusammengerechnet werden, kommen wir auf 250 Schweizer Franken pro Kopf, die uns die körperliche Inaktivität pro Jahr kostet. Auf die Schweizer Bevölkerung hochgerechnet sind das 1,6 Mrd. Franken.

Das entscheidende Element ist die Perspektive bei der Krankheitskostenberechnung. Aus der Sicht der OKP interessieren nur die direkten medizinischen Kosten. Aus der gesellschaftlichen Perspektive werden die Gesellschaftskosten der Produktivitätsverluste berücksichtigt. Es gibt eine dritte Dimension, in der die Einbussen von Lebensqualität durch die Krankheit mitberücksichtigt wird. Hier wird das Mass der “Disability of adjusted Life“ (DALYS) verwendet, wobei der Lebensqualitätsverlust nicht in Geldeinheiten gemessen werden kann. Das DALYS ist ein Mass, das aus dem Projekt “Global Burden of Disease“ hervorgegangen ist. 

Das DALY-Konzept geht davon aus, dass wir von Lebensanfang bis zum Lebensende eine gesunde Lebenszeit haben. Da das jedoch nicht der Fall ist und wir Unfälle und Krankheiten während unserer Lebenszeit erleiden, werden die Einschränkungen je nach Krankheit gewichtet und multipliziert mit der Krankheitsdauer.

Die DALYS setzen sich zusammen aus den “Years lived with disability“ (krankheitslast) und den “Years life lost“ (wie viele Jahre bin ich vor dem Alter von 86,6 Jahren gestorben). Letzteres beinhaltet die verlorenen Lebensjahre. Leider ist das Mass noch rar verbreitet. Es hat jedoch grosses Potenzial, da nicht nur darum geht Tod zu verhindern, sondern die Lebensqualität zu erhöhen. Die DALYS zeigen, dass es noch andere Aspekte wie Geldeinheiten gibt.  

Die wirkungsvollen Interventionen müssen in der Kosten-Nutzen-Verhältnis abgebildet sein. Wir haben durch den Goldstandard des Studiendesigns (RCTs) – randomisiert kontrollierte Studien und somit viele Interventionen ausgeschlossen. In einem Systematic Review haben wir die kostenwirksamsten Methoden herausgefiltert. Von 4000 Studien sind 12 Studien übriggeblieben, da wir das höchste Mass an Studienqualität gesucht haben.

Eine potenziell kostenwirksame Intervention (Empfehlungen zu Aktivitätsmöglichkeiten in der Umgebung per Post, finanziellen Incentives). Die Wirkung einer solchen Intervention wird dann meist in einem Follow-Up – nach ca. einem Jahr, untersucht. Placebo-Effekte können in diesen Studien nicht erhoben wurden.

Die kosteneffektivsten Ergebnisse waren die Empfehlungsinterventionen, die den Probanden nach Hause geschickt wurden (per Post oder E-Mail). Dies hat einen kleinen Unterschied gemacht. Diese Intervention kostet nicht viel, sind jedoch kosteneffektiv, da sie wirksam sind im Verhältnis zu den Kosten.

Gesundheitsökonomische Evaluationen vergleichen das Verhältnis der Kosteneffektivität zu den Effektunterschied. Dies führt dazu, dass günstige Interventionen, die einen kleinen Effekt aufzeigen sehr kosteneffektiv erscheinen.

Die Frage jedoch ist die der nachhaltigen Wirkung der Intervention.

Ein weiteres Beispiel sind Treppenschilder, auf denen “die Treppe nehmen“ empfohlen wird. Ein Schild aufzustellen, kostet nicht viel, hat aber eine kleine Wirkung auf die Menschen.

 

Eine englische Studie untersuchte die Schrittmenge, indem sie Schrittzähler an Probanden abgaben und sie standardisiert couchten.

Eine weitere Massnahme war das Verweisen des Arztes der Probanden an Bewegungsberater und gab Empfehlungen ab. Die Berufsgattung der Bewegungsberater gibt es z.B. in Neuseeland und Australien.

Die Bewegungsberater leiten die Probanden in Sessions über ein halbes bis ein Jahr an, die richtigen Bewegungen anzuwenden. Dabei können die Sessions multimedial durchgeführt werden. Der Effekt hierbei war sehr gut.

Solche teureren individuelleren Interventionen richtig eingesetzt bei einer inaktiven Population sind kosteneffektiv. Dies bestätigt auch eine aktuellere Studie von uns. 

Kostenwirksamkeit ist wichtig jedoch muss der Effekt eine relevante signifikante Grösse haben.

Die Pauschalität macht die Intervention günstiger aber auf Kosten der Wirksamkeit.

Dies ist ein interessanter Punkt. Die meisten wirksamen Ansätze, die von uns beobachtet wurden, basieren jedoch auf individuell personalisierter Ebene.

Ja, die Kosteneffektivitätsergebnisse zeigen die Wirksamkeit einer Intervention. Dies bedeutet nicht, dass desto mehr Interventionsausgaben getätigt werden pro Intervention resultiert automatisch mehr Bewegung. 

Die 250 CHF beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung der Schweiz. Dies bedeutet, dass die Inaktivitätskosten auf die gesamte Bevölkerung verteilt sind. Bei der Betrachtung der Kosten nur auf die inaktive Bevölkerung würden der Betrag grösser ausfallen.

Weiterhin gilt es Kampagnen zu starten, die der inaktiven Zielgruppe zugeschnitten ist, da sich meist die Menschen melden, die Sport im Alltag schon einbauen. Der Grenznutzen der Intervention nimmt ab.

Bei der Intervention sind die regional-kulturellen Unterschiede unbedingt zu berücksichtigen. Die Interventionen müssen die Leute in den Regionen ansprechen.

Die kostenwirksamsten Empfehlungen gehen von unserem Paper aus. Die wichtigsten Empfehlungen jedoch sind die Arztzuweisungen an Couches zur Bewegungsförderung.

Eine Studie der Universität Basel mit dem Konzept “Moving Call“, die sehr vielversprechend scheint. Sie untersuchten welche Medien zur Kontaktförderung benötigt sind, um die Menschen zur Animation zu bewegen. Dies wird mittels Couches und Bewegungsberater untersucht.

Das entscheidende Timing der Kommunikation zur Bevölkerung wird nicht von uns gewählt. Die körperliche Inaktivität wurde nicht sehr medial angegangen. Die Studie zum Rauchen jedoch hat hohe Wellen geschlagen, da sie möglicherweise mehr emotionsbeladen scheint. Die körperliche Aktivität wird verzögert in den Medien aufgenommen.

Das sind vor allem die Zahlen, wie 1,6 Milliarden Inaktivitätskosten oder zum Rauchthema die Todeszahlen.

Das Verhalten der Schweizer bewegt sich in die richtige Richtung hinsichtlich Bewegung. Viele Wissenschaftler sind dankbar für Studien zur Quantifizierung. Die Interventionen sind auschlaggebend zur Verhaltensänderung und nicht die Studie an sich.

Das Ärzte Patienten an Bewegungsberater verweisen können. Das bedeutet eine neue Berufsgruppe an Bewegungsberater sowie der Ernährungsberater zu schaffen.

Mein Wunsch wäre, dass der Tarif ändert zu einem Gesundheitstarif/Gesundheitsberatung, sodass Couches Menschen zu den vier Risikofaktoren der nicht übertragbaren Krankheiten beraten können.

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