Diese Podcast-Folge wurde mit der freundlichen Unterstützung der Groupe Mutuel ermöglicht.
Die Kosten im schweizerischen Gesundheitswesen sind allgegenwärtig präsent. Steigende Prämien belasten Haushaltsbudgets immer stärker, und nahezu monatlich wird über Krankenhäuser berichtet, die in finanzielle Schieflage geraten und teilweise auf kantonale Unterstützung angewiesen sind. Besonders vor dem Hintergrund der zunehmend angespannten finanziellen Lage ist es umso erstaunlicher, dass heutzutage an vielen Stellen mit Fehl- und Überversorgung zu kämpfen ist – also mit Eingriffen, die zu häufig, unnötig oder sogar gesundheitsschädlich sind. Insgesamt gehen auf diese Weise 7-8 Milliarden Franken im Gesundheitssystem verloren – Ressourcen, die an anderen Stellen zweifellos effektiver eingesetzt werden könnten. Warum also nicht stattdessen, wie es bereits in Schweden und den USA praktiziert wird, das Konzept des “Value Based Healthcare” (VBHC) anwenden? Hierbei steht der Patient im Mittelpunkt der Patient Journey, und finanzielle Mittel werden gezielt für medizinischen Nutzen und die Steigerung der Lebensqualität der Patienten eingesetzt. Im VBHC-Ansatz wird eine Behandlung erst dann als erfolgreich betrachtet, wenn sie zur Wiederherstellung oder Verbesserung der Lebensqualität des Patienten beiträgt. Um zu erfahren, ob und wie sich dieses vielversprechende Konzept in der Praxis bewährt, hat Alfred Angerer Dr. Florian Rüter, Leiter des Qualitätsmanagements & Value Based Health Care, sowie Daniel Volken, stellvertretender Direktor der Groupe Mutuel, zu Gast. In Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital Basel haben sie vor drei Jahren das Projekt “Pay for Performance” ins Leben gerufen, mit dem Ziel, ein qualitäts- und nutzenbasiertes Abgeltungssystem zu entwickeln. Hierbei werden sowohl objektive medizinische Qualitätsparameter als auch patientenbezogene Qualitätsparameter (PROMs) mitberücksichtigt.
Fragen und Antworten
Florian Rüter: Mir ist es wichtig, dass ich kommunizieren kann, was während einem Herzchirurgischem Eingriff nicht möglich war. Deswegen habe ich die Perspektive gewechselt. Während meines Studiums ging ich einer redaktionellen Arbeit bei einer Lokalzeitschrift nach. Gemeinsam mit Daniel habe ich die VBHC Society in der Schweiz gegründet und im Herbst erscheint ein Buch von mir zu VBHC.
Daniel Volken: Ich bin direkt nach dem Studium in das Gesundheitswesen eingestiegen und seitdem in diesem tätig. Ich komme aus dem Kanton Wallis. Vor etwa 30 Jahren habe ich selbst Radio gemacht.
Florian Rüter: 2006 wurde diese Theorie zum ersten Mal von Michael Porter veröffentlicht. Es ist eine neue grundlegende Denkweise in der Medizin. Der Nutzen einer Behandlung wird auf einen Patienten heruntergebrochen. Eine Behandlung ist dann gut, wenn die Lebensqualität wieder hergestellt oder sogar verbessert wird. Für VBHC werden auch noch die Kosten für diese Behandlung mit betrachtet.
Es werden Patienten in die Entscheidung einbezogen und die dazugehörigen Kosten betrachtet.
Daniel Volken: Kosten sind ein omnipräsentes Thema im Gesundheitswesen heutzutage und regelmässig in den Medien zu finden. Es stellt sich die Frage, wie wir die vorhandenen Ressourcen gezielter einsetzen. 20–30% der Kosten im Gesundheitswesen, was sieben bis acht Millionen Franken entspricht, entstehen heutzutage durch eine Fehl- und Überversorgung, z.B. durch zu häufige Eingriffe, fehlende Qualität oder gar schädliche Behandlungen. VBHC stellt einen Weg dar, um die Ressourcen besser zu verteilen.
Florian Rüter: Der Begriff taucht immer häufiger auf, das Konzept dahinter ist jedoch vielen nicht bekannt. Die breite Masse muss den Begriff nicht unbedingt kennen, jedoch die Akteure im Gesundheitswesen. Es muss die Denkweise und auch das System geändert werden. Das heisst, die Bedürfnisse der Patienten müssen in den Vordergrund gerückt und diese zuerst einmal erfasst werden.
Aufgrund meiner langen medizinischen Tätigkeit kann ich bestätigen, dass man sich zu wenig damit auseinandersetzt, ob Patienten Eingriffe und die damit verbundenen Folgen überhaupt wollen. Das ist jedoch eine sehr zentrale und bedeutsame Frage.
Florian Rüter: Die Problematik ist, dass dieser gar nicht gelebt wird. Heutzutage fokussieren wir uns nur auf die vom Gesundheitssystem verbrauchten und verursachten Kosten. Von diesem Fokus muss man wegkommen. Es geht um die Gesundheit der einzelnen Person und der Gesellschaft, dies muss wieder ins Zentrum gerückt werden. Dabei hilft VBHC, z.B. durch standardisierte Befragungen nach krankheitsspezifischer Lebensqualität, den Patient-Reported Outcome Measures [PROMs]. Es geht darum, dass sich der Patient in einer Behandlung wieder finden kann und weiss, wer die richtige Person für spezielle Behandlungen ist.
Daniel Volken: Die Prämien spielen bei Krankenversicherungen eine wichtige Rolle. Es ist wichtig, dass wir gemeinsam mit Leistungserbringern und Versicherern nach Lösungen suchen. Momentane Fehlanreize müssen gemeinsam beseitigt werden und dadurch kann die Qualität und der Nutzen für den Patienten ins Zentrum gestellt werden.
Florian Rüter: Es geht nicht darum, mehr Geld auszugeben, sondern mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen das optimale Ergebnis zu erzielen. Im internationalen Vergleich wird im Schweizer Gesundheitssystem sehr viel Geld ausgegeben. Von aussen gesehen ist das Schweizer Gesundheitssystem gut bis sehr gut, jedoch werden nicht die richtigen Mittel eingesetzt, um das Richtige zu tun. VBHC bietet Möglichkeiten, um aus dieser Sackgasse wieder herauszukommen. Wir müssen davon wegkommen, immer auf den anderen zu zeigen, wenn es darum geht, wer im Gesundheitssystem Fehler macht. Es müssen partnerschaftliche Projekte entstehen, um die jährlichen Prämienschocks zu unterbinden.
Daniel Volken: Vor rund drei Jahren sind wird auf das Unispital Basel [USB] und die Pioniere im Bereich VBHC, Florian und Christoph Meier, zugegangen. Mit dem Ziel, gemeinsam ein Projekt mit einem wertebasierten Abgeltungssystem zu entwickeln. Diesem wurde Begeisterung und Offenheit begegnet. Die Idee war es, klein zu starten, mit einem Spital aus der Westschweiz und einem Privatspital.
Daniel Volken: Es ist die Idee, eine qualitäts- und nutzenbasierte Abgeltung zu entwickeln. Einerseits spielen hier Parameter aus der medizinischen Qualität [CROMs] eine Rolle und andererseits die PROMs. Diese zwei Parameter werden dann zu einem Abgeltungssystem zusammengeschlossen.
Florian Rüter: Nicht alle waren gleichermassen von der Zusammenarbeit mit einer Versicherung und dem VBHC begeistert. Als Patient geht man davon aus, dass immer perfekte Qualität geliefert wird – dem ist jedoch nicht immer so. Als Beispiel ist hier die Versorgung von akuten Notfällen, wie Herzinfarkt und Schlaganfall, in ländlichen Regionen zu nennen. Diese stellt eher eine Gefahr dar, da das technische Equipment und die Erfahrung im Umgang damit fehlen. Daher ist es wichtig, die Qualität als finanzierungsabhängigen Faktor mit aufzunehmen. Bei uns gab es vor allem im ärztlichen Bereich auch Widerstände, um mit Krankenkassen zusammenzuarbeiten.
Ich bin davon überzeugt, dass man nicht für mehr Qualität mehr bezahlen soll, sondern dass man zukünftig nur für ausreichende Qualität überhaupt bezahlen soll und im Bereich von minderwertiger Qualität im Gesundheitswesen überhaupt nicht bezahlt werden soll.
Florian Rüter: Dem ist so. Die Groupe Mutuel kam auf uns als Partner zu, da das USB zu diesem Zeitpunkt Patienten bereits standardmässig zur PROMs befragten. Für Patienten ist beispielsweise nicht ausschliesslich die perfekte Operationstechnik wichtig, sondern wie sie sich danach im Alltag damit zurechtfinden. Die Patientenperspektive ist hier extrem wichtig. Als Ärzte müssen wir uns fragen, was sind die Wünsche und Präferenzen der Patienten. PROMs und das VBHC sind eine Ergänzung zu klassischen Qualitätsmessmethoden. Aus all diesen Daten muss ein Wert errechnet werden, der schliesslich in die Vergütung einfliesst.
Daniel Volken: Der erste Schritt war eine Literaturanalyse zu den bestehenden Vergütungssystemen und wo der VBHC-Ansatz bereits gelebt wird. Als zentralen zweiten Schritt kam es zu einer Kooperation mit Ärzten, die sehr offen waren für diese Veränderung. Gemeinsam wurden Kriterien für den Einschluss festgelegt und bereits bestehende Qualitätsdaten für die Entwicklung eines Modells genutzt, welches danach getestet wurde. Das Projekt wird wissenschaftlich von einer Universität begleitet. Momenten sind wir in der zweiten Phase, der Verfeinerungsphase.
Daniel Volken: Es wurde eine Gewichtung der PROMs und klinischen Daten festgelegt, die im Verlauf angepasst wurde. Zwischen dem öffentlichen Spital und Privatspital bestehen gewisse Inkohärenzen, die durch eine Risikoadjustierung momentan verfeinert werden. Eine zentrale Frage ist, ob man dieses Modell auch wirtschaftlich leben kann, daran haben sowohl Leistungserbringer wie auch die Versicherungen Interesse. Meiner Meinung nach lohnt es sich bereits, da der Nutzen für den Patienten in das System integriert wird. Finanziell schauen wir, wie Anreize gesetzt werden können und dass Spitäler mit guter Qualität belohnt werden.
Florian Rüter: Es ist sehr komplex, Leistung im Gesundheitswesen für eine adäquate Vergütung abzubilden. Ich musste viele wirtschaftliche Verfahren lernen, die im Medizinstudium nicht vorkommen. PROMs und Qualitätsindikatoren allein reichen auch nicht aus, da es Unterschiede in Patientengruppen und Spitälern gibt. Wie auch bei der Verteilung von Privatpatienten und allgemein Versicherte in einer grossen Stadt. Dies muss in eine Risikoadjustierung einfliessen.
Daniel Volken: Es hat standardisierte Fragesets zu Krankheitsbildern, diese können auch selbstständig durch die Zusammensetzung von unterschiedlichen Fragebögen zu Krankheitsbildern und Lebensqualität erweitert werden, was ein PROMs-Frageset ergibt.
Das erste Fachgebiet im USB war die Brustchirurgie in dieser das Konzept umgesetzt wurde, da hier die Leitung bereits Erfahrung mit VBHC hatte.
Generell haben wir festgestellt, dass eine reine Top-Down-Delegation für eine erfolgreiche Umsetzung von VBHC nicht funktioniert. Es hat unterschiedliche Interessengruppen, die verstehen müssen, warum etwas erhoben werden muss. Momentan erheben wir bei etwa 20 unterschiedlichen Krankheitsbildern in unterschiedlichen Kliniken PROMs, um die wahren Bedürfnisse der Patienten zu erkennen und die Therapie danach auszurichten.
Florian Rüter: Ja, es hat zwei wissenschaftlich belegte Vorteile.
Zieht man die PROMs in die Konsultationszeit mit ein, so kann diese viel effektiver gestaltet werden. Füllen Patienten im Vorfeld den PROMs-Fragebogen aus und dem Arzt ist die Auswertung bei der Konsultation bekannt, so kann auf die Punkte eingegangen werden, wo für den Patienten Handlungsbedarf besteht.
Die wissenschaftliche Arbeit mit den Daten von PROMs und möglichen Publikationen sind für Mediziner ebenso ein Vorteil.
Daniel Volken: Im Bereich der Gesundheitsökonomie beschäftigt uns das Thema Über- und Fehlversorgung bereits seit fünf Jahren, wo dieses Thema zum richtigen Zeitpunkt kam.
Da es kein «Rezept» für dieses Projekt gab, mussten wir eng mit dem Leistungserbringer zusammenarbeiten. Wichtig war die Ansiedlung des Projekts VBHC oben in der Geschäftsleitung, wo es effektiv gelebt werden muss. Für eine erfolgreiche Umsetzung braucht es Ausdauer.
Daniel Volken: Es ist ein lernendes System. Wir arbeiten, wenn möglichst mit vorhandenen Daten und möchten Fehler ausbessern. Allgemein funktioniert ein Tarifsysteme etwa fünf Jahre, danach ist bekannt, wie man es ausnutzen kann. Unsere Hoffnung ist, dass es hier nicht so ist. Genau mit solchen Projekten zeigen wir auf, dass Tarifpartnerschaften zwischen Versicherern und Leistungserbringern funktionieren können.
Daniel Volken: Als Versicherer will man nicht nur als reine Zahlstelle gesehen werden. Wir möchten gemeinsam mit Leistungserbringer die Patientenpfade optimal abbilden. Im Bereich der Zusatzversicherungen ist viel möglich, jedoch hat es die FINMA als Regulator. Für uns als Groupe Mutuel ist es aber wichtig, dass VBHC in der OKP umgesetzt wird, um keine zwei Klassenmedizin zu haben. Wir beabsichtigen das System grundsätzlich umzubauen und klären gerade die gesetzlichen Möglichkeiten ab, vor allem hinsichtlich der wirtschaftlich-zweckmässig-wirksam-Kriterien und tariflichen Abgeltung.
Florian Rüter: Das Ziel ist es nach dem Einsatz von VBHC im Bereich von Hüftimplantaten, jetzt Knieimplantate in Angriff zu nehmen. VBHC ist ein generelles Umdenken in der Behandlung, es soll die Qualität der Behandlung steigern, für Patienten Wichtiges in den Vordergrund rücken und Über- oder Fehlversorgung reduzieren. Durch ein Beheben von Fehlbehandlungen könnten in der Schweiz mehrere Millionen eingespart werden.
Florian Rüter: Jedes Spital kann mit verschiedenen Aspekten des Konzeptes VBHC arbeiten, nicht nur mit PROMS, sondern auch mit Behandlungseinheiten. Patienten sollen sicher sein, dass sie die beste Versorgung erhalten, da interprofessionell kommuniziert wird und sie die individuell beste Behandlung bekommen.
Das Konzept lässt sich auf das ganze Gesundheitssystem übertragen. VBHC soll dazu beitragen, dass die medizinische Versorgung auf allen Ebenen für das ganze System verbessert wird und nicht für ein Spital die Kosten senken.
Daniel Volken: Es braucht weitere Aufklärung, was VBHC ist. Den Kunden müssen wir aufzeigen, was die Vorteile sind, wenn sie sich in einem Spital behandeln lassen, das nach diesem Prinzip handelt.
Es sollen weitere Bereiche einbezogen werden; auch ausserhalb des Spitals. So wollen wir ganze Behandlungspfande durch VBHC vergüten, wodurch unterschiedlichste Bereiche miteinbezogen werden.
Florian Rüter: Wir wollen ein besseres Gesundheitssystem, warum wir von einer strikten Trennung der Versorgungseinheiten abkommen sollten. Wir müssen den Patienten als Ganzes betrachten, der ein gutes Ergebnis will. Unabhängig davon, ob er sich bei einem niedergelassenen Arzt, in einem Spital oder einer Reha-Einrichtung befindet. So soll es auch als Ganzes vergütet werden, wie z.B. in den skandinavischen Ländern.
Jedoch denke ich, dass die Schweiz noch zu reich ist und noch nicht genügend Druck vorhanden ist, um solch einen Systemwandel zu vollziehen.
Daniel Volken: Fahren wir so weiter wie bisher, wird das Gesundheitswesen an die Wand gefahren – es braucht Lösungen. VBHC ist unserer Meinung nach, eine Lösung in die richtige Richtung.
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