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Florian Liberatore – Interprofessionelle Zusammenarbeit: Die Zukunft für unser Gesundheitswesen?

45 Steuern Kommunikation Mitarbeitende/Zusammenarbeit Leisten Kompetenzen Prozesse Leistungerbringer Spitex Alters- und Pflegeheime Rehaeinrichtungen Arztpraxen Spitäler Interprofessionelle Zusammenarbeit

Alfred Angerers heutiger Gast ist einmal wieder sein geschätzter Kollege und stellvertretender Leiter seines Teams Management im Gesundheitswesen am Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie (WIG) – Florian Liberatore. Florian bricht mit diesem dritten Besuch im Podcast den derzeitigen Rekord und rückt, nachdem er nun schon über Marketing im Gesundheitswesen und Value-based Healthcare gesprochen hat, heute das Thema Interprofessionelle Zusammenarbeit (IPZ) in den Fokus.
Ob die IPZ einen Platz in der Zukunft unseres Gesundheitswesens einnehmen wird bzw. sollte, beantwortet der Betriebswirtschaftler eindeutig mit Ja. Sie findet sogar schon statt… Nämlich immer genau dann, wenn Fachleute aus mindestens zwei Professionen (z.B. Ärzteschaft und Pflege) gemeinsam arbeiten, voneinander lernen und zwar im Sinne einer effektiven Kollaboration, die am Ende bessere medizinische Outcomes erzeugt.
Exemplarisch berichtet Florian Liberatore von den Projekten, die er und sein Team am WIG als Reaktion auf die Ausschreibung des BAG zum Thema Förderprogramm «Interprofessionalität im Gesundheitswesen» ins Leben riefen und zeigt auf, wo genau der Nutzen von der IPZ liegt. Qualität, Mitarbeitendenzufriedenheit und Patientenzufriedenheit sind dabei nur einige wichtige Schlagworte.

Hören Sie in diese Podcast-Episode und erfahren Sie mehr darüber, was sich hinter dem Begriff der IPZ verbirgt, welchen Nutzen sie mit sich bringt und wie sich eine erfolgsversprechende IPZ in den verschiedenen Settings des Gesundheitswesens implementieren lässt.

Fragen und Antworten

Es geht darum, dass verschieden Gesundheitsfachpersonen in irgendeiner Form zusammenarbeiten. Allein schon die Behandlung von einer Ärztin mit der Unterstützung einer Pflegefachfrau ist bereits IPZ, weil mindestens zwei Professionen zusammenarbeiten, sie voneinander lernen und sie eine effektive Kollaboration zum Wohle des Patienten bilden.

Task Shifting ist eine Unterform der Massnahmen, die man bei IPZ durchsetzen kann. Das würde heissen, dass man bestimmte Aufgaben teilweise an eine andere Profession delegiert. Heutzutage ist die Richtung meistens von der ärztlichen Profession zu anderen Professionen wie Pflegefachpersonen, Therapeuten und andere. Die IPZ beinhaltet weitaus mehr Möglichkeiten und Massnahmen, die man sich in diesem Bereich überlegen könnte.

Bisher war die IPZ unbewusst, teilweise informell und nicht optimiert. Die heutige Form der IPZ kann als ein Kontinuum von einer sich zufällig ergebenen Zusammenarbeit hinzu einer formellen, optimierten und bewussten Form der IPZ verstanden werden.

Einen direkten Link kann man zu Value-based Healthcare schlagen. Es soll darum gehen den Nutzen der Patienten und Patientinnen in den Mittelpunkt zu stellen und daraus eine optimierte Versorgung auszurichten. Dies schreit danach, dass wir eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachpersonen an einem Fall benötigen. Teilweise geht IPZ gar so weit, dass man Patienten in die Zusammenarbeit inkludiert. Es ist im Sinne von Value-based Healthcare, dass Gesundheitspersonen nicht am Patienten arbeiten, sondern gemeinsam in einer Art Co-Creation mit den Patienten die optimale Behandlung finden.

Es geht darum gewisse Schnittstellen zu verbessern, diese können zwischen zwei verschiedenen Professionen sein, sind aber generell unabhängig davon. Es geht um sämtliche Schnittstellen, die es zu optimieren gilt, weil es Unterbrüche gibt, unnötige administrative Kosten entstehen und Ineffizienzen einen Einfluss auf die Verweildauer der Patienten haben. Der grösste Nutzen besteht häufig darin, dass positive Qualitätseffekte resultieren und bessere medizinische Outcomes erwartet werden. IPZ führt auch zu attraktiveren Arbeitsbedingungen, die Leute sind zufriedener und glücklicher, weil die Abläufe klarer sind und sie im Team besser zusammenarbeiten können.

Die Haupttreiber von den Gesundheitsfachpersonen sind häufig die nicht-ärztlichen Professionen, weil sie am meisten mit funktionellen Schnittstellen konfrontiert sind. Aber auch viel medizinisches Personal möchte im Sinne einer besseren Qualität und für zufriedenere Patienten IPZ einführen und vorantreiben.

Angefangen hat es mit insgesamt drei Projekten beim BAG im Förderprogramm bei dem Herr Liberatore und sein Team die Forschungsinstitution waren, die mit verschiedenen anderen Kooperationspartnern zu diesem Thema geforscht haben. Insgesamt gab es drei Bereiche. Das eine war, dass sie geschaut haben, was genau die Problematik beim Patienten ist, unter dem Stichwort widersprüchliche Einschätzung. Wie weit verbreitet ist eine schlechte Abstimmung bei den Patienten und Patientinnen verbreitet und es folglich zu Wiedersprüchen kommt? Aus den Untersuchungen stellten Herr Liberatore und sein Team für die Schweiz fest, dass ca. 47% der Schweizerinnen und Schweizer bei ihren Behandlungen Wiedersprüche erlebt haben. Ein solcher Zustand ist problematisch, denn es geht häufig um Medikation, Diagnosestellungen oder die Wahl einer Therapieoption. Weiter können Wiedersprüche Patienten verunsichern und sogar den Heilungsprozess beeinflussen.

Es ist auch spannend sich zu überlegen, dass Wiedersprüche gelegentlich auch gut sind. Gerade wenn es um die Versorgungsstufe Hausarzt zu Facharzt geht, kann die unterschiedliche Fachkompetenz zu verschiedenen Meinungen über eine Therapie oder Behandlung führen.

Negativ kann es sein, wenn es Widersprüche auf der gleichen Versorgungstufe im Spital zwischen zwei verschiedenen, behandelnden Pflegepersonen gibt. Dafür gibt es Ansätze, dass es beispielsweise eine fallführende Person gibt, die im Kontakt mit der Patientin oder Patient steht. Man muss sich gut überlegen, wann immer eine gemeinsame Entscheidungsfindung Sinn ergibt oder wann die herkömmliche Variante (top-down) sinnvoller scheint. Bei komplexen Fällen ist eine Zusammenarbeit grundsätzlich fördernd, hingegeben kann der unnötige Austausch bei standardisierten Fällen gegenteiliges bewirken.

Das Thema IPZ haben sie in einem zweiten Forschungsprojekt im Rahmen des Förderprogramms zu den Task Shifts angeschaut. Wie von Herr Liberatore bereits erwähnt, ist Task Shifting eine Unterform bei der zum Beispiel eine neue Aufgabenverteilung innerhalb der IPZ organisiert wird. Konkret wurden im Spital Winterthur Ideen zum Task Shifting bei den Pflegekräften umgesetzt. Teil der Forschung war es die Veränderungen zu evaluieren und da ging es um Fachspezialisten, die medizinische Standardaufgaben in einer chirurgischen Bettenstation den Pflegefachpersonen übertragen, die bestimmte Qualifikationen erfüllen. Daraus haben Herr Liberatore und sein Team angeschaut, was diese Veränderungen für betriebswirtschaftliche Effekte haben.

Auf der entsprechenden Abteilung war es ein gemeinsamer Entscheid, sowohl vom ärztlichen Personal als auch vom Pflegepersonal. In einem weiteren Modell hat sich das ärztliche Personal mit den Physiotherapeuten zusammengeschlossen, um postoperative Gespräche an Therapeuten zu delegieren und dadurch Ärzte zu entlasten. Das Ziel war zu evaluieren, was Task Shifting für neue Freiräume für das ärztliche Personal bringt und wie sich die Aufgabenausweitung auf die Therapeuten auswirkt.

Häufig ist die Aufgabe für den Operateur nach dem Eingriff bereits erledigt. Physiotherapeuten hingegen denken an die Widerherstellung der Motorik und die Lebensqualität der betroffenen Patienten. Hier ist die enge Verstrickung zu Value-based Healthcare wieder zu sehen. Das Problem bei Bottom-up-Modellen besteht in der Umsetzung, weil die Tarifstrukturen nicht darauf abgestimmt sind und darum angepasst werden müssen.

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht können aufgrund von ähnlichen Löhnen keine Personalkosten eingespart werden. Es könnten höchsten indirekte Kosten über Qualitätseffekte oder über zusätzliche Ressourcen der Ärzte eingespart werden.

Aus der Forschung kam heraus, dass die Patientenzufriedenheit generell sehr hoch ist. Dieses Resultat konnte bei beiden Modellen festgestellt werden. Voralldingen nehmen sich die Professionen vom Delegationsprinzip mehr Zeit und die Patienten fühlen sich wohler, weil sie nicht jedes Mal von einem anderen Arzt betreut werden. 

Im Sinne eines Job-Enrichments, also einer Aufwertung und zusätzlichen Karrieremöglichkeiten, bekommen die Fachkräfte mehr Verantwortung und Abwechslung. Für Personen, für die eine solche Ausweitung neue Perspektiven schafft, ist diese Veränderung natürlich gut, andererseits wird die Akademisierung dieser Berufe, die nicht zwingend notwendig ist kritisch bewertet. Häufig sollten nicht zusätzliche Karrieremöglichkeiten eine Rolle spielen, sondern die Möglichkeit flexibel zu arbeiten und gewisse Freiräume zu geniessen.

Hierbei ging es um die Revision des Heilmittelgesetztes, die vorsieht, dass Apothekerinnen und Apotheker bei gewissen Indikationen ohne, dass ein ärztliches Rezept vorliegt, verschreibungspflichtige Medikamente nach einem eigenen Beratungsgespräch abgeben können. Es handelt sich hierbei, um ein Task Shifting, das top-down entstanden ist, weil es eine Gesetzesrevision gab, nachdem sich auch die Verbände und die Berufsgruppen geeinigt hatten. Schliesslich wurden die Ideen umgesetzt und konnten von Herr Liberatore und seinem Team ökonomisch evaluiert werden.

Trotz betriebswirtschaftlicher Nachteile ist es eine gute Idee die Apotheken zu stärken und dass man für gewisse Pro-forma-Aufgaben für ein erneutes Rezept nicht den Hausarzt aufsuchen muss. Dadurch können sich Ärzte und Ärztinnen auf schwerere Fälle konzentrieren. Bezüglich der Patientensicherheit haben Apotheken aufgrund ihrer Fachkompetenz einen eher besseren Überblick über Wechselwirkungen von Medikamenten. Insofern wäre eine Verschiebung positiv zu bewerten. Hierbei lohnt es sich eine weitere Perspektive einzunehmen und Ideen langfristig zu bewerten.

Herr Liberatore ist positiv gestimmt, weil es die positiven Effekte auf die Qualität und die Patientenzufriedenheit bringt, die sehr wichtig sind und dort stecken auch die Potentiale. Es wurden bereits sehr viele Kosten im Gesundheitswesen optimiert. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht könnten weiterhin positive Qualitätseffekte aus Prozessen im Sinne von Value-based-Healthcare herausgeholt werden.

Es braucht eine gewisse Offenheit und eine Unternehmenskultur, die Innovation und Modellversuche zulässt. Eine andere Möglichkeit wäre erfolgreiche Modellprojekte zu analysieren und schliesslich zu kopieren, dann ist die Umsetzung relativ risikolos.

Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine davon ist Bottom-up, es handelt sich um klassische Verbesserungsvorschläge, die ernsthaft aufgenommen und geprüft werden. Eine weitere Möglichkeit ist, dass man systematisch nach Modellprojekten schaut, zum Beispiel gibt es beim BAG eine Liste an Modellen guter Praxis, die dort veröffentlicht werden.

Nach dem die Auswahl steht, ist es ein klassischer Veränderungsprozess, der nicht anders durgeführt wird wie bei einer anderen Transformation. Herr Liberatore empfiehlt den Prozess wissenschaftlich zu begleiten, um es auch gegenüber den Kostenträgern und dem eigenen Personal objektiv absichern zu lassen.

Herr Liberatore erwähnt nochmals die Advanced-Practice-Nurses, die in der ambulanten und in der stationären Versorgung immer mehr Aufgaben übernehmen können. In diesem Bereich wird aktuell in verschiedenen Spitälern und Grundversorgern experimentiert.

Grundsätzlich sagt jeder, dass sie eine Form der interdisziplinären Zusammenarbeit pflegen aber eher auf informellem Weg bis hin zur formalisierten Art, die eher selten anzutreffen ist. Es ist ein langes Kontinuum bis hin zu einer vollständigen Kollaboration von verschiedenen Versorgungsstufen.

Eine Intervention darf das Geschäftsmodell nicht gefährden und es muss Geld verdient werden, deshalb können Patienten nicht vollkommen berücksichtigt werden. Es kommen aber langsam neue Regularien, die Qualitätsindikatoren als Mindeststandard vorsehen und in ferner Zukunft in der Tarifstruktur berücksichtigt werden könnten.

Herr Liberatore erwähnt die multimorbiden Fälle in der häuslichen Pflege, wo ein komplexes Netzwerk an Pflegenden, Angehörigen, Spitex, Hausärzten und Therapeuten involviert ist. Es handelt sich um teure und hochkomplexe Fälle, bei denen die Koordination unklar ist und die fallführende Rolle eigentlich die Hausärzte übernehmen sollten, aber schlussendlich informell von der Spitex übernommen wird. Das Potential liegt laut Herr Liberatore in der Komplexität und der steigenden Anzahl dieser Fälle.

Herr Liberatore stellt sich die Frage, warum Betriebswirte nicht Teil der interdisziplinären Teams sind. Spätestens wenn wir an Value-based Healthcare denken, können Dataanalysten wertvolle Daten, wie Qualitätsdaten liefern. Obwohl Betriebswirte keine fachliche Funktion einnehmen, könnten sie in einer beratenden Funktion die IPZ ergänzen. 

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