Dr. med. Katharina Rüther-Wolf ist die erste Lean-Expertin, die Alfred Angerer und sein Co-Host Patrick Betz zum Auftakt ihrer neuen Podcast Reihe «Lean Healthcare mit Alfred und Patrick» eingeladen haben. Dabei ist die derzeitige Leiterin des patientenzentrierten Managements und praktizierende Gynäkologin am Unispital Basel die Wunsch-Kandidatin von Patrick, da Sie in ihrer derzeitigen Karriere schon eine lange und tiefe Lean-Geschichte hat, von der sie berichten kann. Zudem wird sie mit Sicherheit in ihrer neuen Position ab September 2021 als ärztliche Direktorin der Solothurner Spitäler AG noch einiges zum Thema Lean erreichen, in welcher Sie Lean als Vorbild leben möchte. Die Lean-Verfechterin, welche selbst zu Hause die 5S-Methode im Kinderzimmer eingeführt hat sowie einen wöchentlichen Familien-Huddle, berichtet von ihrem ganz persönlichen Lieblingstool – dem Gemba-Walk.
Hören Sie in diese Podcast-Episode und erfahren Sie, wie sich das Unispital Basel ausgehend von einem Pilotprojekt in einer Klinik zu einem Lean-Hospital entwickelt hat und darüber, warum der Gemba-Walk dabei hilfreich war und ein Must-Have-Tool bei der Einführung von Lean darstellt.
Und lesen Sie in dieses Buch, wenn Sie einen Einblick in eines der Lieblings-Lean-Bücher von Katharina erhalten wollen: „Das ist Lean: die Lösung des Effizienzparadoxes“ (2015) von Niklas Modig und Pä Ahlström.
Fragen und Antworten
Nein, in meiner neuen Stelle werde ich viel mit klinischen Ärzten und Chefärzten zu tun haben, sodass ich weiterhin viel mitbekomme. Ab dem ersten September 2021 werde ich die ärztliche Direktorin der Solothurner Spitäler AG sein.
Im Studium habe ich schon versucht die Kurse in Lean zu gestalten. Dafür habe ich für mein Staatsexamen sehr viel visualisiert. Das ging so weit, dass meine Vorbereitungskarten sogar abgekauft worden sind. Als Ärztin in der Sprechstunde dachte ich mir sehr oft, wie ich Prozesse optimieren könnte, indem ich Mitarbeiter fragte, wie die Prozesse optimierter laufen könnten. Es ergab sich bald die Möglichkeit einen Fellowship im Clinical Management zu machen. Mit Patrick Betz durften wir in diesem Rahmen nach Amerika reisen und Lean Hospitals anschauen. Dieses Projekt konnte mich so sehr begeistern, dass ich dachte Lean ist genau das was wir brauchen.
Ich hatte einen großartigen Mentor und Unterstützer, den Bereichsleiter im Unispital Basel. Mit den Mitgliedern der Bereichsleitung baute ich ein Pilotprojekt mit dem Lean-Gedanken auf. So kam eine Klinik nach der anderen des Spitals hinzu, sodass das gesamte Spital langsam und stetig prozessoptimiert wurde.
Ja, das würde ich so sagen. Er kannte Lean schon aus der Industrie und hat es dort schätzen gelernt.
Zum einen wende ich Lean im Kinderzimmer meiner Kinder an. Wir machen sogar einen wöchentlichen Familien-Huddle. Freitagabend wird die ganze nächste Woche besprochen, wie welche Termine anstehen, wer wen abholt und was es abends zu Essen gibt und was am Samstag eingekauft wird. Am Ende des Huddles wird gefragt wie die Woche war und was wir nächste Woche noch besser machen können. Wir schreiben uns das in einem Buch auf, sodass alle das sehen können. Das machen wir schon seit drei Jahren.
Es kommt darauf an in welchem Stadium ein Spital ist. Ganz am Anfang ist mein Lieblingstool der Gemba-Walk, da es sehr Augen öffnend ist und man sehr viel lernt.
Gemba kommt aus dem Japanischen und bedeutet “Ort des Geschehens“, da wir zum Ort des Geschehens gehen. Der Gemba-Walk erfolgt meist interdisziplinär, in der zusammen beobachtet wird, welche Verschwendungen während einem Prozess stattfinden. Die elektivste Art ist den Gemba-Walk aus der Sicht des Patienten durchzuführen. Der gesamte Patientenpfad erfolgt aus der Sicht des Patienten und der Patientin.
Es werden Personas erfunden, z.B. “Wir sind jetzt die typische 45-jährige Brustkrebspatientin“ und stellen uns erstmal in den Eingangsbereich des Spitals. Wir haben den Zettel erhalten für das erste Mal Chemotherapie. Jetzt liegt es daran den Raum zu finden und sich in die Patientin zu fühlen. Alles andere ergibt sich dann von allein. Der gesamte Patientenpfad wird so sehr gut beleuchtet. In Basel wird vier Mal jährlich ein Gemba-Walk durchgeführt. Wir sind beispielsweise in der Hämatologie letzte Woche den gesamten Patientenpfad durchgegangen und haben mit allen Akteuren währenddessen gesprochen. So können Mitglieder des Verwaltungsrates, die hauptberuflich mit Zahlen arbeiten wirklich erkennen wir der Patient sich fühlt und welche Wege er durchläuft.
Patrick Betz: Und dafür benötigt es keine tiefen Kenntnisse über Lean und Verschwendungen. Somit können erlebte Störungen des Patienten viel besser gesehen und durchleuchtet werden. Es benötigt das Erlebte vor Ort, um Probleme anzugehen, anstatt diese im Sitzungszimmer lösen zu wollen.
Ja, jedoch sollte man nicht mit der Erwartung hingehen, um sofortige Verbesserungen zu erzielen. Es zählt das “Augen auf und Mund zu! Das Beobachten und Schauen!“ Das ist besonders als Führungskraft am Anfang nicht so einfach.
Die Erkenntnisse sind sehr vielfältig und beinhalten ganz kleine Dinge, wie Weg-Beschriftungen und deren Lage. Wie wirken die Informationszettel sowie Gegenstände verteilt auf den Fensterbänken und die Lage des Untersuchungsstuhls usw. Auch die Gesprächsführung und der Prozess mit dem Personal an sich kann sehr aufklärend sein.
Wir sind seit 10 Jahren dabei Gemba-Walks zu machen und es gibt sehr vielfältige Varianten, in der Lean gelenkt werden kann. Zum Bespiel haben wir das Gleiche mal mit dem Dokumentenfluss gemacht. Ich denke es gibt sehr viele Bereiche zu optimieren.
Das ist sicher so. Nach einem Gemba-Walk werden Störungen aufgeschrieben und priorisiert. Es gibt Punkte, die erst angegangen werden können, wenn kleinere andere dazu benötigten Dinge erledigt werden. Das Kommunizieren der Ergebnisse im Team und der Mitarbeiter ist sehr relevant, um eine Veränderung zu bewirken.
Patrick Betz: In der Beratersprache heisst es das Bearbeiten der “Quick wins“ and “low hanging fruits“ steigert die Motivation.
Das bedeutet sehr viel Kommunikationsarbeit und ist Teil der Unternehmenskultur. Am Anfang hatten Mitarbeiter Angst ihre Stelle durch das Beobachten zu verlieren, daher musste sehr viel kommuniziert und aufgeklärt werden. Nun melden sie sich selbst, um Gemba-Walks durchzuführen. Ein Gemba-Walk ist deutlich günstiger als ein Engagement eines Beraters. Es muss jedoch ein relevanter Effekt danach ersichtlich sein.
Patrick Betz: Ich halte fest, dass
- Bunt gemischt an dem Ort des Geschehens gehen
- Auch über den Tellerrand schauen
- Die Mitarbeitenden informieren
- Eine Grundkultur muss geschaffen werden des Zutrauens und weniger des Misstrauens
- Gute Kommunikation der Mitarbeiter und der Patienten
Nein, wir machen es noch klassisch mit Klemmbrettern.
Patrick Betz: Alfred, nun outen wir uns gerade
Alfred: Nein, da gibt es Nichts zu outen. Das Analoge und Digitale sind kein Widerspruch. Das Digitale muss einen Mehrwert erzeugen.
Das kann gut sein, aber ich lerne jeden Tag dazu. Man ist jedoch auf einer Lean-Reise. Durch meinen Werdegang erst als Ärztin dann im Bereich des Managements und wieder beides kombiniert, hat mich besonders fasziniert, dass ich Räume ganz anders betrachtet und wahrgenommen habe.
Wenn ein Trainer den Gemba-Walk vorher und nachher organisiert und mit dem Team bespricht, können gute Ergebnisse erzielt werden. Wir versuchen jedoch, dass die Mitarbeiter zur mehrmaligen Nutzung geschult werden. Hierfür braucht es eine Lean-Schulung.
Patrick Betz: Bemerkte Störungen in einem Prozess, während eines Gemba-Walks müssen ebenfalls verändert und angegangen werden. Diese Ausführung wird besonders von den Mitarbeitenden und der Involvierten während dem Prozess erledigt. Deswegen müssen genau diese Gruppierungen selbst das Sehen lernen.
Die Art und Weise wie an das Thema herangegangen wurde, war stets ähnlich. Die Ressourcen innerhalb eines Zeitraums wurden dem Team erklärt und nach dem Ziel und deren Probleme gefragt. Die passenden Werkzeuge wurden dem Team und der Spezifizierung angepasst.
Darüber denke ich jetzt gerade nach. Im Moment denke ich, dass ich das gerne vorleben würde. Bisher war ich an der Seite des Geschehens und habe versucht interprofessionelle Teams zu motivieren. Ich nehme mir vor als Spitalleitung vor Gemba-Walks zu machen. Mein Wunsch wäre, dass der Nutzen erkannt und mitgetragen wird.
Es gibt Personen, die von Anfang an motiviert sind und gerne mitmachen. Andere wiederum sind skeptisch. Bei der Identifizierung der Pain-Points und der Unterstützung können diese Personen jedoch auch sehr motiviert werden. Einige sind schon überzeugt, dass sie sehr Lean sind. Faszinierend ist jedoch, wenn durch Unterstützung weitere Möglichkeiten zur Verbesserung erkannt werden können. Lean soll keine vorhandenen gut laufenden Prozesse zerstören, sondern unterstützend sein bei der Verbesserung der schon verbesserten Prozesse. Das Ziel vordergründig ist die patientenorientierte Arbeitsweise in einem Spital. In einem Spital haben Ärzte nicht das Ziel der Organisation, sondern der Lehre, Forschung und guter Medizin im Vordergrund. Wenn den Ärzten und den Ärztinnen Lean erklärt wird, kann ein sehr hohes Engagement und eine hohe Motivation bewirkt werden. Für Pflegende ist es einfacher die Lean-Denkweise in ihrem Alltag zu integrieren. Ich habe eine Scuba-Diving-Theorie, wie man Lean Ärzten schmackhaft machen kann.
Ärzte und Ärztinnen können motiviert werden, indem mit Begeisterung von Lean-Projekten erzählt wird. Das Mitmachen eines Walks verbunden mit wenig Zeitaufwand und das Lösen eines Pain-Points der Ärzteschaft, schafft Raum zur Umsetzung. Das Team kann danach präsentieren, was selbstständig erarbeitet wurde, wobei die Prozesse und die ärztlichen Pain-Points eliminiert wurden.
Das Mitmachen in einem Gemba-Walk mit möglichst wenig Ressourcenverbrauch kann Wunder wirken. Es muss jedoch eine Grundstimmung an Offenheit und Veränderungsbereitschaft herrschen sonst ist ein Energieaufwand nicht lohnend.
Patrick Betz: ich halte fest
- Gemba-Walk ist ein hervorragendes Tool am Anfang
- Der Gemba- Walk ist interprofessionell besetzt, nicht nur interdisziplinär. Durchaus kann eine Managementkomponente vorhanden sein.
- Die Kommunikation muss den Fokus auf die Bewertung der Abläufe und nicht auf die Mitarbeiter richten
- Das Gesehene muss kategorisiert werden
Schnelle Erfolge können motivierend eingesetzt werden
Die Anwendungsbereiche sind sehr weitreichend bis hin zur Finanzabteilung und der Küche. Gerade in Spitälern sind sehr viele Bereiche, die sehr motiviert einer Prozessoptimierung entgegensehen.
Der Dokumentenfluss zu betrachten ist sehr interessant. Oft werden Informationen hin und hergetragen, die nicht nötig sind. Eine verbesserte Absprache schafft hierbei Lösungen.
Ich würde darauf achten, dass keine Mono-Professionalität vorhanden ist. Es gibt jedoch Situationen, in denen ein Huddle-Board von einer interdisziplinären Gruppe bearbeitet werden sollte. Das was funktioniert sollte weiter angestrebt werden. KVP- der kontinuierliche Verbesserungsprozess und Kaizen entsteht für mich mit einem Gemba-Walk.
Leanbücher sind nicht immer einfach zu lesen. Das Buch “Das ist Lean- Die Auflösung des Effizienzparadoxon“ von Niklas Modig und Pä Ahlström, beschreibt den Gedanken des Lean passend für Leser, die sich einlesen möchten. Lean wird in diesem Buch z.B. mit einem Fussballspiel verglichen. Die Grundvoraussetzung jedoch ist, dass alle das Spielfeld den Ball und das Ziel sehen können. Dazu gehört das Kennen der verbleibenden Spielzeit, Spielstand und dass der Pfiff und die Mannschaftskameraden gehört werden können. Bei der Übertragung auf ein Spital ist es schwieriger diese fundamentalen Voraussetzungen zu schaffen, da Mitarbeiter sich zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten befinden und Unterschiedliches ausführen.
Ich bin mir nicht sicher, ob es noch Lean heissen wird. Am Qualitätsartikel der BAG ist schon erkennbar, dass Qualität eine immer grössere Rolle spielt. Qualität ist durch medizinische Innovation und Prozessqualität definiert. Nur Spitäler, die bereits schon angefangen haben, qualitätsorientiert zu arbeiten, werden eine Existenzchance aufweisen. Wir sind am Anfang der Messbarkeit der Qualitätsmessbarkeit und werden in naher Zukunft patientenorientierter und effizienter arbeiten.
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