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Holokratie – Eine radikale Transformation

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Marion Wolff ist selbständige Unternehmensberaterin. Sie nutzt die Psychologie im Human Resource Management, um Organisationen von dem hierarchischen Denken zur Selbstorganisation zu entwickeln. Gemeinsam mit Alfred Angerer spricht sie über die Holokratie, deren Ziel es ist, autonome Mitarbeitergruppen zu nutzen, um ein Unternehmen agiler voranzutreiben. Ihre steile These lautet: Hierarchie kann mit der zunehmenden Komplexität nicht umgehen.

Fragen und Antworten

Zunächst müssen die Ursachen für den Wunsch bzw. den Druck sich verändern zu müssen, geklärt werden. Dies können beispielweise konkurrierende Start-ups, Probleme beim Besetzen vakanter Stellen oder motivationslose Mitarbeitende sein.

Die Kundschaft merkt, dass etwas verändert werden muss, weiss aber nicht was genau. Dieses Gefühl ergibt sich oftmals aus dem Umgebungsmarkt. Derzeit bewegen sich Unternehmen in einer VUCA-Welt (volatil, uncertain, complex, ambiguious). Die Märkte sind sehr volatil, geplante Marktumsätze können über Nacht durch Erfindungen des Silicon Valleys disruptiert werden. Das führt zu einer sehr hohen Unsicherheit. Mit dieser Grundannahme stellt sich die Fragen, was der Unternehmung in diesem Umfeld am meisten hilft. Es können sowohl die einzelnen Bereiche Kultur, Upskilling oder Prozesse betroffen sein, wie auch Kombinationen aus diesen.

Die Ist-Situation lässt sich über ganz verschiedene Wege kennenlernen. Es gibt interessante Möglichkeiten die Kultur zu analysieren. Das weiche Gut Kultur, zu dem meist nur Thesen bestehen, lässt sich plötzlich in einer dreidimensionalen Struktur abbilden. Besonders bei kulturgetriebenen Themen kommt diese Methode zur Anwendung. Auf diese Weise kann die Diskussion über Kultur versachlicht werden. Weiter empfiehlt sich immer mit Menschen aus verschiedensten Bereichen oder auch mit relevanten Stakeholdern aus dem Markt, Kundschaft oder zuliefernden Unternehmen zu sprechen. Hierbei muss es nicht zwingend die Hierarchie sein. Auf diese Weise entsteht ein tieferes Verständnis für die entsprechenden Vorgänge. Mit dieser Ausgangsbasis sollte gemeinsam eine Transformationsvision gestaltet werden. Diese Vision ist ein relevantes Element, um Orientierung zu geben.

Aus der Erfahrung sind CEO sehr stark darin sozialisiert Bilder der Zukunft und der dazugehörenden Strategie zu haben. Die spannende Frage im Kontext von VUCA ist: «Ist es nicht viel relevanter, auch mal nichts zu wissen und miteinander im Diskurs Bilder zu kreieren oder Thesen zu formulieren, wie sich der Markt, die Welt oder die Umgebung weiterentwickelt?»

Die Bereitschaft der Organisation ist hierbei ausschlaggebend. Es kann mit den Führungskräften analysiert werden, was die Bilder zu den auftretenden Phänomenen sind. Auf dieser Basis der Analyse können Thesen zu den Phänomenen entwickelt werden. Bei Organisationen mit geringer Hierarchie und einer hohen Bereitschaft zu Transformation und Wandel bietet es sich an, nicht mit der Hierarchie zu arbeiten. Es können Personen eingeladen werden, die Lust haben sich an der Entwicklung der Zukunft des Unternehmens zu beteiligen. Es gibt somit sehr unterschiedliche Wege, sich diesen Prozessen zu nähern.

Für diese Arbeit bietet sich das Systemic Loop Model an. Hierbei ist es wichtig, am Anfang des Prozesses keine Meilensteinplanung zu machen. Es soll kein Enddatum gesetzt werden. Im Rahmen dieses Modells geht es darum, immer wieder neu folgende Fragen zu stellen: «Wie ist die Situation? Was glauben wir, ist im Moment besonders relevant? Welche Prioritäten wollen wir setzen? Wie intervenieren wir?».

Dann gilt es abzuwarten und zu beobachten, wie die Organisation oder auch die Kundschaft damit umgeht. Im nächsten Loop wird dasselbe erneut gemacht. Der Prozess ist somit nicht mehr linear, sondern immer wieder mit Phasen des Lernens versehen.

Grundsätzlich ist Betriebsblindheit möglich. In solchen Fällen ist eine Begleitung wichtig, die bereit ist, provokative Fragen zu stellen und die Vergangenheit eines Problems zu hinterfragen. Bei älteren Problemen ohne Lösung besteht meist ein Nutzen im Problem. In der Psychologie wird dies als Sekundärnutzen bezeichnet. Jedes Problem und jeder Konflikt haben einen Nutzen. Wenn dieser höher ist, als der Nutzen aus der Beseitigung des Problems, wird das Problem erhalten bleiben. Es empfiehlt sich, eine Person im Prozess zu haben, die Hintergründe hierzu kennt und diese provokativ ansprechen kann.

Beispiel: Ein Mitarbeitender nimmt einen neuen Kundenwunsch wahr. Er ist jedoch nicht befugt hierzu Entscheidungen zu treffen. Bis diese zur richtigen Stelle eskaliert und eine Entscheidung getroffen wurde, vergeht einiges an Zeit. Die Kundin oder der Kunde wird unzufrieden auf Grund langer Wartezeiten oder hat bereits eine Antwort von einem anderen Marktteilnehmenden erhalten. Die sich heute geleistete Hierarchie führt somit zu Verlangsamung. Die zentrale Herausforderung ist, die Balance zwischen Hierarchie und Selbstverantwortung zu ermöglichen.

Der globale Markt interessiert sich nicht für die Traditionsgeschichte eines Unternehmens. Natürlich obliegt der Traditionsgeschichte ein gewisser Marktwert in Form von «trust». Diese alten Marktwerte verlieren immer mehr an Kraft und werden durch schnelle Antworten und Hochtechnologie ersetzt. Auf die alte DNA sollte sich nicht verlassen werden, wie das Beispiel Kodak zeigt. Es gibt diverse Unternehmen, die auf Grund solcher Grundsätze nicht mehr Marktplayer sind.

Es gibt verschiedene Arten Führung zu gestalten. Einige sind mutiger und radikaler. Andere sind deutlich weniger radikal. Hiervon können einzelne Instrumente beispielsweise auch von Bereichs- und Abteilungsleitenden genutzt werden, um die Selbstverantwortung im eigenen Bereich zu stärken. Ein radikaler Ansatz ist zum Beispiel Holokratie. Holokratie ist ein Strukturmodell, was nicht über Hierarchien führt, sondern über Kreise («circel»). Circel richten sich immer nach einer Marktleistung. Das heisst, Menschen verschiedener Kompetenzen bilden zusammen einen Circel und erbringen selbstständig eine Marktleistung. In grossen Organisationen gibt es viele Circels, die teilweise auch dieselben Marktleistungen erbringen. Der oberste Circel hat abweichende Aufgaben wie Strategieentwicklung und hierfür die Entscheidungskompetenz. Das entscheidende in diesem System ist, dass die Entscheidungskompetenz immer bei der Person ist, die in diesem Feld bzw. Bereich am kompetentesten ist. Hierin liegt der radikale Unterschied zu Hierarchien. Dort werden Entscheidungen, je risikoreicher sie sind, umso weiter nach oben getragen werden.

Circel können sehr unterschiedlich gross sein. Es kann von vier bis 20 Personen schwanken. Bei 20 Personen spricht man bereits von einem grösseren Circel. Es gibt ebenfalls Organisationen mit Circeln von 40 Personen. Diese sind sehr gross und der Austausch wird schwieriger. Zielgrössen liegen etwas bei 15 Personen. Die Grösse eines Circels ist jedoch abhängig vom Tätigkeitsbereich und dem Unternehmen. In Circels gibt es keine traditionellen Funktionen, sondern Rollen. Rollen sind flexibler als Funktionen und eine Person kann je nach Kompetenz unterschiedliche Rollen innehalten. Die Rolle zeichnet sich durch Aufgabenbündelung aus, mehrere Aufgabenbündel erben eine Rolle. Diese können auf die jeweiligen Personen zugeschnitten werden.

Rein theoretisch ist dies möglich. In traditionellen Modellen wird jedoch in Full-Time-Equivalents (FTE) gedacht. Damit kann es zu Problemen mit der Aufgabenbündelung kommen. Wenn in einer Organisation nur selten Anrufe der Kundschaft abgewickelt werden müssen, ergibt dieses Aufgabenbündel keine ganze Funktion. Daraus entsteht eine Mischung der Aufgabenbündel, was darin resultieren kann, dass die rolleninhabende Person nicht die kompetenteste für die alle gebündelten Aufgaben ist. Hier kommt das Kapazitätsmanagement zum Tragen, umso starrer die Rolle und Aufgabe desto eher entsteht ein Kapazitätsproblem mit Unter- oder Überlast.

Das Modell ist enorm schnell, da nicht in der Hierarchie nachgefragt werden muss, sondern der Rolleninhaber entscheidet. Aus diesem Grund ist es wichtig, bei Übernahme der Rolle das Vertrauen das Lead-Circels in die Kompetenzen der Person und deren Entscheidungen zu haben. Der Lead-Link ist die Person zwischen Circel sowie dem übergeordneten Circel und kann Rollen entziehen oder aktiv vergeben. Der Geschwindigkeitsgewinn entsteht dadurch, dass jede Rolle selbst entscheidet.

Es ist sehr klar, wer die Verantwortung hat. Nur gibt es hierfür keine Hierarchie. Heute wird die Spitze einer Organisation für alles verantwortlich gemacht, was in derselben passiert. Es ist jedoch fraglich, ob dies die reale Situation treffend abbildet. Das alte System beinhaltet lange gelernte Muster, aber nicht zwingend funktionsfähige. Es stellt sich hier die Frage, ob dies tatsächlich produktiv ist.

Die erste Voraussetzung ist die Bereitschaft seitens Unternehmensleitung Macht abzugeben. Das ist meist die schwierigste Hürde. Die neuen Systeme kommen nicht nur aus den Anforderungen des Marktes, sondern auch aus der Entwicklung unserer Gesellschaft, dem Wertewandel und den demokratischen Entwicklungspfaden. Die aktuell in den markteintretenden Arbeitnehmenden haben andere Anforderungen an Arbeitgeber und die Arbeit als Personen bereits langfristig bestehenden Arbeitsverhältnissen. Es handelt sich um einen gesellschaftlich stärker werdenden Veränderungsdruck.

Nein. Das System hat die Person mit der Macht ausgestattet, da es denkt dies ist relevant. Zudem wurde die Person in einem elitären Hierarchiesystem ausgewählt, was vermittelt, dass diese Person etwas für das System Wichtiges kann. Mit dieser Systemhierarchie hat sich die Haltung etabliert, die Führung sei relevanter als die Mitarbeitenden selbst. Das zentralste einer Transformation ist die Fähigkeit, die eigene Haltung zu hinterfragen und zu überprüfen. Die eigenen Glaubenssätze und Haltungen, wie ein System funktioniert, müssen in Frage gestellt und ggf. neu organisiert werden.

Per se ist dies nichts Einfaches. Es geht um Kybernetik zweiter Ordnung. Das heisst, keine Beobachtung ohne den Beobachtenden selbst. Die eigene Wahrheit wird mit den eigenen Augen wahrgenommen. Es hilft, einen Austausch mit einer weiteren Person anzustossen. Der Austausch soll die eigene Ansicht zum System thematisieren. Eine zentrale Haltungsfrage hierbei ist: «Wie relevant finde ich es, dass ich selbst keine Fehler mache oder wie gehe ich mit eigenen Fehlern um?». Besonders wenn die Führungskraft offen über Fehler spricht, wird einen Dialog darüber ermöglicht.

Alle neuen Systeme haben andere Anforderungen an die Menschen, die in diesen Systemen arbeiten. Eine zentrale Anforderung ist die Reflektionskompetenz. Auch der Umgang mit der eigenen Unsicherheit zählt zu den neuen Anforderungen. Früher wurde sich auf Stabilität durch das System verlassen. Neu muss sich auf eine Person und ihre Fähigkeiten, mit der sich sehr verändernden Welt umzugehen, verlassen werden. Das erfordert den Aufbau neuer Kompetenzen.

Holokratie ist eine sehr radikale Lösung der Selbstorganisation. Tatsächlich können zunächst einzelne Techniken wie die Meetingstruktur ausprobiert und angewendet werden. Sobald die Entscheidung für holokratische Strukturen getroffen wurde, geht dies nur über eine radikale Veränderung. Die erste Veränderung beginnt beim CEO und dem Führungsteam. Diese müssen bereit sein, Macht abzugeben und bei vielen Themen nicht mehr entscheidungsbefugt zu sein. Die Entscheidungskompetenzen begrenzen sich dann auf die eigenommenen Rollen.

Die Entwicklung in Richtung Selbstorganisation kann auch mit kleineren Schritten beginnen. Hierzu muss zunächst nochmals die «Why»-Frage gestellt werden. Meist geht es um Geschwindigkeit und Flexibilität. Es kann aber auch um die Form des Einbringens der Mitarbeitenden und deren Entfaltung gehen. Mit dieser Annahme und der These, dass in Zukunft Mitarbeitende leichter in einem solchen Umfeld rekrutiert werden können, kann mit kleinen Schritten begonnen werden. Es können im Rahmen von Projekten Owner bestimmt werden, die die kompetentesten für dieses Projekt sind aber keine Führungskräfte. Die Owner werden mit vollen Entscheidungskompetenzen ausgestattet und müssen nicht nachfragen, um Entscheidungen zu treffen. Ergänzend kann ein Beratungsprozess etabliert werden. Hierbei trifft sich der Owner vor schwierigen Entscheidungen mit relevanten Stakeholdern, stellt seine Lösung vor und holt sich von dieser Runde ein Feedback ab. Mit dem Feedback kann der Owner nochmals an der Lösung arbeiten oder sie wird beibehalten. Die Verantwortung liegt aber weiter beim Owner. Es gibt hierzu die Fragestellung «Is it save enough to try?». Sobald ein Stakeholder seine Zweifel an der Entscheidung hat, kann eine Stopp-Karte gezogen werden. Die Bedenken an der Entscheidung werden transparent gemacht und müssen seitens Stakeholder in die Lösung eingearbeitet werden. So können besonders risikoreiche Entscheidungen nochmals im Sinne der Organisation abgesichert werden.

Jeder in der Organisation, der eine gewisse Verantwortung für einen Bereich trägt, kann anfangen Dinge anders zu machen. Das kann sowohl mit dem Beratungsprozess als auch mit Reflektionsrunden nach einem Meeting erfolgen. Auch das offene sprechen über die eigenen Fehler, kann ein Anfang sein, um die Organisation im Sinne einer Transformation voranzutreiben.

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