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Johannes Bircher – Wandel des Systems

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Prof. Dr. med. Johannes Bircher hat sich die letzten 65 Jahre der Medizin gewidmet und arbeitete zuletzt als Direktor für Medizinische Dienste am Inselspital Bern. Gemeinsam mit Alfred Angerer spricht er über den Wandel des Gesundheitssystems. Dabei berichtet er auch über das Meikirch-Modell (www.meikirch-modell.ch), welches er selbst entwickelt hat. Es sieht den Menschen in seinem ganzheitlichen Bild und rückt den Fokus der Medizin auf die Gesundheit des Menschen. Er ist der Meinung, dass das Meikirch- Modell die Gesundheit der Menschen positiv beeinflusst und gleichzeitig die Gesundheitskosten reduziert.

Fragen und Antworten

Herr Bircher hat es als Dekan an der medizinischen Fakultät an der Universität Witten/Herdecke sehr genau gespürt, hatte aber keine Idee wie man die Situation verbessern könne oder wie man vorgehen sollte. Erst als an einer Tagung ein Kollege meinte, man müsse Begriffe definieren, überlegte sich Herr Bircher welchen Begriff man definieren müsse und dies sei die Gesundheit selbst. Deshalb hat er sich die Frage gestellt, wie man Gesundheit betrachten müsse und welche Definition allgemein annehmbar ist.

Die Klage über das Geld ist in der Schweiz weit im Vordergrund. Schliesslich hat die Schweiz das zweitteuerste Gesundheitssystem der Welt. Wo man hinschaut, ist es nicht optimal, vieles läuft schief. Zweitens verlassen einer von sieben Ärzten und einer von sieben Pflegenden den Beruf, weil sie frustriert sind, wie der Beruf ausgeführt werden kann. Auch gesundheitsökonomisch gibt es grosse Probleme, denn das Gesundheitssystem ist so konzipiert, dass Ärzte angehalten sind, möglichst viel Umsatz zu generieren und dies ist nicht vereinbar mit den Zielen der Gesundheit. Es wird zu viel operiert und untersucht, nicht wegen den Patienten, sondern des Geldes wegen.

Herr Bircher meint, man könne am Gesundheitssystem so viel herum schrauben, wie man möchte, vieles wird nicht viel nützen. Dazu zitiert er Einstein: «Sie können etwas, dass mit einer bestimmten Denkmethode entstanden ist nicht verändern und wenn sie es verändern wollen, dann müssen sie mit einem neuen Denken herangehen». Für Herr Bircher hat eine neue Denkmethode bisher gefehlt, denn viele Leuten haben sich Mühe gegeben das Gesundheitssystem zu verbessern, aber es ist immer schlechter geworden.

Als Assistenzarzt hatte Herr Bircher stets genügend Zeit, um sich den Patienten zu widmen. Während den Pausen habe er sich informiert, hatte Zeit für die Forschung und hatte abends genügend Zeit für die Familie.

Bevor näher auf die drei Punkte eingegangen werden kann, müssen wir definieren was genau gewollt ist. Das Gesundheitssystem müsse ein Ziel haben, das man aussprechen kann und das ist die Definition der Gesundheit nach dem Meikirch-Modell. Herr Bircher denkt, dass das Meikrich-Modell das ganze System positiv beeinflussen würde.   

Zuerst muss ein Blick auf die Beziehung zwischen Gesundheit und Krankheit geworfen werden. Jemand ist gesund, wenn er in der Lage ist die Ansprüche, die das Leben an ihn stellt, zu befriedigen. Um Ansprüche zu befriedigen, brauchen wir Ressourcen. Nun hat jeder Mensch zwei verschiedene Arten von Ressourcen. Das erste sind die biologisch gegebenen Ressourcen die Jedermann bei der Geburt geschenkt kriegt, diese sind bei der Geburt am grössten und nehmen im Verlauf des Lebens ab. Die zweite Art von Ressourcen sind die persönlichen erworbenen Ressourcen. Für die müssen wir das ganze Leben lang Verantwortung tragen. Es handelt sich hierbei, um was wir lernen, welche Persönlichkeit wir entwickeln und wie wir mit den Anforderungen des Lebens umgehen, diese sind entscheidend für Gesundheit und Krankheit. Dies sei ein Problem, das in der Gesellschaft nicht berücksichtigt wird.

Als nächstes haben beide Potentiale (Ressourcen) eine Beziehung zur gesamten Gesellschaft und drittens haben beide Potentiale auch eine Beziehung zur Umwelt, die ausserhalb der Gesellschaft ist. Wenn man nun das Gesamtbild anschaut, dann sieht man, dass diese Faktoren in Verbindung sind und jederzeit im Leben berücksichtigt werden müssen.

Diese Komponente entwickelt sich von der Geburt an und wächst mit der Beziehung zur Mutter, dem Vater und den Geschwistern und später in der Schule. Gleichzeitig hat Jedermann die Verantwortung an seiner eigenen persönlichen Entwicklung zu arbeiten. Diese wird aber laut Herr Bircher nicht genügend wahrgenommen, weil es kein Gesellschaftsziel sei. Ganz im Gegenteil spielt aber die Persönlichkeit im Hinblick auf die Gesundheitskompetenz und die Übernahme von Verantwortung gesundheitlicher Aspekte eine grosse Rolle. Eine ausgewogene Ernährung ist dafür ein Beispiel.   

„Ja da bin ich voll einverstanden“, sagt Herr Bircher. Es wäre sehr wichtig, diese Verantwortung wieder ins Zentrum zu stellen. Wenn die Individuen in der Gesellschaft sich dieser Verantwortung bewusst sind und sehen, dass man für die Gesundheit etwas tun kann, dann wären die Krankheiten mehr im Hintergrund und man würde das Gesundheitssystem entlasten. Herr Bircher denkt, dass so 10-20% der Kosten gespart werden könnten.

Die fehlenden Ausgaben für die Prävention sind ein gutes Beispiel dafür, dass das träge, komplexe System nur schwer veränderbar ist. Deshalb könne man viele gesundheitsschädliche Dinge zur Kenntnis nehmen aber die Mehrheit reagiert nicht darauf. Entscheidend ist, dass man das persönlich erworbene Potential schon in der Schule beibringt, weil dieser Treiber, der den Menschen steuert, bereits in der Pubertät entwickelt wird. Zweitens, wenn das Konzept des Meikirch-Modells allgemein bekannt ist, dann werden die Leute auch eher auf die Gesundheit achtgeben.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Schulzahnklinik. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen die Zuckerbäcker auf und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die Zähne der Leute beschädigt. Bereits junge Erwachsene mussten ihre Zähne ziehen lassen oder erhielten ein Gebiss.

Dann hat man zwischen 1930 und 1950 den Schulzahnarzt eingeführt und heute weiss Jedermann wie man mit den Zähnen umgehen muss. Die Idee der Zahnhygiene ist somit sinnbildlich für die verspätete Wirkung einer frühen Intervention.

Diese Definition wurde als Reaktion auf den zweiten Weltkrieg geschrieben. Man befand sich in einer Aufbruchsstimmung und man wollte nach dem Krieg alles besser machen. Herr Bircher ist der Meinung, dass die Definition aufgrund der Vollkommenheit unrealistisch sei. Denn die Gesundheit entwickelt sich fortlaufend im Leben. Weiter ist die Definition zu der Zeit als sie geschrieben wurde, gerechtfertigt gewesen, ist aber für die heutige Zeit nicht mehr adäquat.

Das Meikirch-Modell selbst ist eine Definition der Gesundheit. Und dieses Konzept soll nach der Meinung von Herrn Bircher, so schnell wie möglich eingeführt werden.

Es ist enorm schwierig die Definition so stark zu abstrahieren, dass sie mit weniger als fünfzehn Worten niedergeschrieben werden kann. Deshalb ist es besser, wenn man von den Bildern der Potentiale auf der Meikirch-Modell-Webseite ausgeht. Daraus sei es wichtig zu verstehen, dass um diese Potentiale herum die Gesellschaft und die Umwelt stets seinen Anteil haben.

Die Frage, die sich stellt, ist, ob er in der Lage ist die Anforderungen des Lebens zu erfüllen. Querschnittsgelähmte sind zwar eingeschränkt aber sie können weiterhin lernen, sodass sie weiterhin selbstständig leben können. Dann ist man weiterhin in der Lage die Anforderungen des Lebens zu erfüllen. Herr Bircher sieht diesen Prozess nicht als eine Selbstverständlichkeit, aber wenn es möglich sei weiterhin zu Lernen wie man im alltäglichen Leben zu recht kommt, dann ist man gleichermassen in der Lage die Anforderungen des Lebens zu erfüllen.

Aus Herr Birchers eigenen Erfahrungen ist die Arbeit mit Patienten und ihre Gesundheit, wenn man die Patienten als Mensch ernst nimmt, eine der am meisten sinnstiftenden Aufgaben überhaupt. Gerade die finanziellen Anreize, die im Gesundheitswesen vorhanden sind, mindern diese Begeisterung für den Beruf. Denn wenn man mit Geldsummen die Arbeit beeinflussen will, dann hat dies die Konsequenz, dass die intrinsische Motivation sinkt, weil die Arbeit nicht mehr schön ist. Aus diesem Grund ist die Fluktuationsrate sowohl bei Pflegerinnen und Pfleger als auch bei Ärzten so hoch.

Mehr Zeit mit den Patienten führt erstens dazu, dass der Arzt seine Freude mit den Begegnungen seiner Patienten behält. Zweitens haben Gespräche zwischen den Patienten und den Ärzten eine grosse Einwirkung auf das Verhalten der Patienten und können sogar therapeutisch wirken.

Das Entscheidende ist, dass nach jedem Spitalaufenthalt, zum Beispiel nach einer Operation, die Haltung des Patienten gegenüber seinem gesundheitlichen Problem so ist, dass er sich kuriert. Auch wenn er es nur dem Arzt zuliebe tut, weil er eine Beziehung entwickelt hat, dann ist viel mehr Gesundheit geschaffen, als wenn man sinnlos den Körper repariert.

 

Als gutes Beispiel für richtige finanzielle Anreize, nennt Herr Bircher die Major Klinik. Die Ärzte und Ärztinnen sind alle angestellte Ärzte mit einem festen Lohn, der sich je nach Spezialgebiert unterscheidet. Folglich sind finanzielle Anreize für die Motivation der Ärzteschaft nicht nötig. Trotzdem hat die Major Klinik in den letzten Jahren immer den Preis für die beste ärztliche Behandlung in den Vereinigten Staaten erhalten. Das Meikrich-Modell ist der Schlüssel, um die Problematik des Anreizsystems zu lösen.

Weil das Meikrich-Modell behauptet, dass ein Patient nicht nur ein Körper hat, sondern auch eine Persönlichkeit ist und beides muss behandelt werden, dies sei das Entscheidende.

In der klassischen, hierarchischen Organisation handeln die Mitarbeitenden nach Vorschrift und ihre Kreativität bleibt ungenützt.

Die Probleme im Gesundheitswesen sind nicht nur auf die Probleme in einem einzelnen Land zurückzuführen. Es handelt sich, um ein Menschenbild. Grundsätzliche ist Herr Bircher überzeugt, dass die Umsetzung des Meikirch-Modells in Spitälern, die Gesundheitskosten stark senken könnte. Darum würde er sich wünschen, dass sein Modell in der Schweiz zur Anwendung kommt.

Herr Bircher ist überzeugt, dass sich sein Modell oder ein konkurrierendes Modell, dass ähnliches bewirkt, durchsetzen wird. Dieses Konzept sei die Zukunft und je schneller wir uns auf diese Zukunft einstellen, desto besser und preiswerter werden die Gesundheitssysteme.

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